Wuttkes

 

Wuttkes Trasse gibt’s wirklich – aber wieso eigentlich nur im Tal der Ahnungslosen?

 

 

Einbettung in meine „engere” Familie

Beim Schreiben fällt mir selbst auf, wie wenig Kontakt ich zu den Sahmkows hatte – zwischen Jörns Konfirmation Anfang der 1960er und Onkel Richards Tod vierzig Jahre später praktisch überhaupt keinen. Das kann nicht alleine am Altersunterschied oder an den (späten) Verwerfungen gelegen haben, die zwischen meinem Vater und Tante Ilse aufbrachen, und das war mit meinen Schulz-Vettern anders, als ich etwas älter geworden war (siehe weiter unten).
Noch weniger Berührungspunkte hatte ich mit Onkel Reinhold und Tante Lilly – dass sie Paraschiva hieß, erfuhr ich erst im Erwachsenenalter, denn niemand nannte sie je so. Deren Ehe blieb kinderlos, und als ich Mitte der 1950er einmal in ihrer Wohnung an der Wartenau war, ödete ich mich fürchterlich. Spielzeug gab es nicht, und wenn ich irgendeinen herumliegenden Gebrauchsgegenstand in die Hand nahm, um mich damit zu beschäftigen, nahm Lilly ihn mir umgehend wieder weg. Sie befürchtete wohl, dass ich etwas beschädigen könnte. Das ging sogar ihrem Mann schließlich so auf die Nerven, dass er aus einer Schublade mit vollen Händen Löffel, Schmuck und was weiß ich noch schaufelte, vor mir auf dem Teppich ausbreitete und dabei „Mach kaputt!” rief. Was ich wohlweislich nicht befolgte.

 

 

 

Vier aus diesem Familienbaum: Fritz‘ und Olgas Kinder.

Ilse, Reinhold, Friedrich, Erna (um 1920)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Spurensuche nach meinen Vorfahren

Väterliche Ahnen

Der älteste, mir namentlich bekannte Wuttke erblickte im 18. Jahrhundert in Schlesien das Licht der Welt, auf dem Land zwischen Breslau (Wrocław) und Ohlau (Oława). Das Interesse, ein bisschen mehr über meine weit zurückliegenden Wurzeln zu erfahren, war schon um 1960 durch die Lektüre eines Jugendbuchs über einen Schüler namens Wuttke aus Liegnitz (Legnica ist übrigens Partnerstadt von Wuppertal – so schließen sich biographische Kreise) angeregt worden, dann aber in Vergessenheit geraten. Erst aus dem 1998 geerbten, in der Nazi-Zeit obligatorischen „Ahnenforschungsbogen”, herausgegeben vom Aufklärungsamt für Rassefragen, und durch Gespräche mit meinem Cousin Rüdiger hatte ich immerhin einige dürre Lebens-Rahmendaten von Familienmitgliedern zur Hand:

⊗ mein Urururgroßvater Johann Christoph (* 1764 in Seiffersdorf, † unbekannt), ein Kretschambesitzer (also Dorfkneipier)

⊗ dessen Sohn Johann Gottfried (* 1797 in Seiffersdorf, † 1877 in Marschwitz) arbeitete als Schullehrer

⊗ mein Urgroßvater Carl Gottlieb Reinhold (* 1838 in Marschwitz) wanderte als junger Mann nach Hamburg aus, wo er, wie so viele Landflüchtige, seinen Lebensunterhalt als Arbeiter verdiente, wohl 1871 eine drei Jahre ältere Frau namens Maria Louise Friedrica Fuhrmann heiratete und bereits mit 45 Jahren starb. Einer der dieser Ehe entstammenden Sprösslinge war mein besagter Opa Friedrich Wilhelm Reinhold (* 1880 in Hamburg), den sie als 70-Jährigen aus dem Krankenhaus im Schanzenviertel rausgeschmissen hatten.

Meine Spurensuche auf den Friedhöfen von Zabardowice und Marszowice blieb erfolglos; Ersterer war während der Belagerung Breslaus durch die Rote Armee zerstört worden und wies fast ausschließlich Gräber aus der Zeit nach 1945 auf. Alte Kirchenbücher in der Kreisstadt zu durchforsten, sofern diese Matrikeln das Kriegsende überhaupt überlebt haben, war mir an dem langen Wochenende nicht möglich.

 

Mütterliche Ahnen

Meine mütterliche Herkunftslinie ist deutlich schlechter dokumentiert; immerhin weiß ich, dass diese Seite meiner Vorfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus diversen Gegenden nördlich und östlich der Elbe (darunter Ostpreußen, Sachsen, Mecklenburg, Dithmarschen, Nordschleswig) nach Hamburg emigriert ist. Denn Ingrid hatte für ihre Hälfte der Ehegeschichte die Namen und Daten einer ganzen Reihe zusätzlicher Familienmitglieder herausfinden können. Und als es in Deutschland kurzzeitig zulässig war, hat meine Mutter 1995 ihren Nachnamen zu Richert zurückgeändert, ohne daraus eine Doppel- oder Triplekette zu bandwurmen. Verständlich, dass ihr ihre Seite der Familiengeschichte wichtig war. Aufgewachsen ist sie als Einzelkind; ihre Eltern hatten lange Zeit einen Tabakladen im südöstlichen Barmbek (Nähe Wagnerstraße) besessen, nachdem ihr Vater in den 1920ern als Bankbeamter und Bilanzbuchhalter gearbeitet hatte.

Martha

Ihre Nachforschungen haben am Beispiel ihrer Mutter individuelle Schicksale zutage gefördert, die das Leben der einfachen Leute um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf brutale Weise veranschaulichen – Unfälle, Krankheiten, Krieg, Verbrechen. Meine Omi Martha, Tochter eines Schlossers, hatte fünf Geschwister, drei ältere und zwei jüngere: Johanna Ziegler war im Kinderwagen eine Böschung heruntergerollt, trug bei dem Sturz dauernde Schädigungen davon und starb 1919 mit 28. Paul war im Weltkrieg Flieger, stürzte bei einem Einsatz 1918 ab und wurde nur 24, Willy fiel als sogar erst 20-Jähriger bereits 1915 an der Front. Den beiden Jüngsten war das kürzeste Leben vergönnt: Otto erlebte in Folge eines Sturzes aus dem Wohnungsfenster seinen dritten Geburtstag 1901 nicht mehr, während die dreijährige Anita 1904 an Diphtherie starb. Die Mutter dieser sechs Kinder, meine Urgroßmutter Christine Marie Louise Ziegler (* 1872), wurde im August 1943 von den Nazis in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet. Ich bewundere meine Großmutter aufrichtig, wie sie mit einer solchen Geschichte in ihrer nächsten Nähe hat umgehen können, die ich erst lange nach ihrem Tod erfuhr. Zu ihren Lebzeiten habe ich nie auch nur einen Hauch von Trübsinn, Trauer oder Verzweiflung wahrgenommen.

 

Von beiden Ahnenseiten …

… sind – sofern ich das nicht wunschvoll überinterpretiere – ersichtlich bestimmende Schicksalsfäden meines eigenen Lebens gesponnen worden. Da wären zum einen die Broterwerbe zweier Wuttkes und eines Richert: Der Lehrer und der Tabakladeninhaber sind selbsterklärend, zumal später auch noch Cousin Rüdiger lange bei Reemtsma gearbeitet hat. Vom Wuttke-Wirt stammt meine gelebte Überzeugung, dass Kneipentresen kulturell zentrale Orte des sozialen Lebens und der Kommunikation sind – gerade auch in Zeiten, in denen virtuelle Treffen um sich greifen.

Wozu auch der Familienname selbst beiträgt: «Das Wort Wodka ist die Verkleinerungsform des polnischen Wortes woda bzw. des russischen Wortes вода für Wasser [ergo Wässerchen]. Früher wurde die Spirituose auf Deutsch Wutka genannt.» Und dass ich kein Wässerchen trüben kann, gehört zum allgemeinen Wissensschatz.

Sodann habe auch ich von der genetischen Erfreulichkeit profitiert, dass männliche Wuttkes selbst im hohen Alter nicht unter Glatzenbildung leiden.

Schließlich lassen die zwischen Skandinavien und Ostmitteleuropa breit gestreuten Herkunftsregionen meiner Vorfahren nur einen Schluss zu: „Was kuxtu, Alder, isch au glasklar Migrationshintergrund!” – nur dass darüber früher niemand dermaßen viel Gewese gemacht hat.

 

Meine Schwester

Mitte der 1960er

Astrid, die taggenau ein Jahr nach Kriegsende zur Welt kam und die unser Vater 1955 „an Kindes Statt angenommen” hatte, bestand Anfang 1965 das Abitur an dem meinem CDG benachbarten Mädchengymnasium in der Sternstraße. Ihre schulischen Stärken lagen in den Bereichen Musik, Kunst, Biologie und Chemie, wohingegen Mathe und Leibesübungen überhaupt nicht ihr Ding waren. Anschließend zog sie nach Köln, wo sie ein Germanistik- oder literaturwissenschaftliches Studium aufnahm und wir uns auch noch einmal getroffen haben. Bereits damals arbeitete sie nebenher freiberuflich für den WDR, veröffentlichte auch Zeitschriftenartikel, bspw. in der Neuen Revue. Ab 1971 wohnte sie in Hamburg an der Kollaustraße, wo sie zusätzlich Rundfunkbeiträge für den NDR erstellte, wie ich aber erst 1982 von Altonas Sanierungsbeauftragtem Walter Seeler erfuhr, der sie damals kennen und schätzen gelernt hatte. In dieser Zeit verlor nicht nur ich sie völlig aus dem Blick, sondern auch meine Eltern wussten lange nicht, wo sie war, geschweige denn, wie es ihr ging. Erst später erschlossen sich uns Bruchstücke ihrer Erlebnisse: Anfang/Mitte der 1970er war sie einem Journalistenkollegen – offenbar nicht nur aus beruflichen Gründen – in die USA gefolgt. Den Aufenthalt hatte sie auch dafür genutzt, ihren leiblichen Vater zu suchen und zu besuchen, dem sie ihren zweiten Vornamen Kay verdankte. Beide Episoden müssen für sie ziemlich frustrierend ausgegangen sein. Immerhin erwarb sie dort wohl einen Mastergrad; aber in welchem Fach? In diesem Kontext geriet Astrid in die Fänge der Vereinigungskirche (Mun-Sekte), die für Gruppenzwang bis hin zur Gehirnwäsche berüchtigt war. Daraus konnte sie sich nach Jahren – offenbar dank fremder Hilfe – befreien und nach Deutschland zurückkehren. Über all diese Vorgänge hat sie mit uns sogar viel später nie zusammenhängend gesprochen. Das trug dazu bei, entschuldigt aber nicht, dass ich konstatieren muss: Wirklich verstanden habe ich Astrids Empfindungen, Gedankengänge, Verletzungen und Handlungen nie; am Altersunterschied kann dies nur in unseren ganz jungen Jahren gelegen haben.

Bis Ende der 1980er Jahre lebte meine Schwester dann in Hamburg, u.a. in Winterhude, wo wir uns ein- oder zweimal trafen. Aber weiterhin gab es über lange Abschnitte keinerlei Kontakt zwischen ihr und mir; ich wusste und weiß nicht einmal, ob und was sie gearbeitet hat. Das erging Fritz und Ingrid nicht anders, wenngleich sie sich mit Astrid, die sie auch finanziell unterstützten, unregelmäßig brieflich und telefonisch austauschten. 1988 zog sie in ihre Geburtsstadt Kassel; dort war sie anscheinend phasenweise in einer Reha-Einrichtung in Behandlung. Im Sommer 1994 meldete sie sich plötzlich aus Paris, wo sie ein Studium aufnehmen wollte, kehrte dann aber nach wenigen Monaten nach Deutschland zurück und lebte seither in Hannover. 1997 veröffentlichte sie in ihrem eigenen Verlag namens Lesen und Denken ein Buch („Das Gotteskreuz”), eine Mixtur aus philosophisch-religiösen Themen, bei dem ich – das muss ich zu meiner Schande gestehen – nie über die ersten Seiten hinausgekommen bin. 1999 folgte noch ein weiterer Titel („Die Puppe Milba”) mit selbstverfassten Gedichten, der gleichfalls in der Deutschen Nationalbibliothek steht.

Nach dem Tod unserer Eltern bildeten wir 1997 eine Erbengemeinschaft, die gelegentliche Absprachen und Briefwechsel, auch einzelne Begegnungen erforderlich machte, ehe ich Astrid im Jahr 2000 ausgezahlt habe. Bis in das Frühjahr 2002 schrieben wir uns hin und wieder noch, seither habe ich nichts mehr von ihr gehört. Erst 2022 erfuhr ich aufgrund eigener Nachforschungen, dass sie bereits im August 2008 gestorben war, und das unter ziemlich unschönen Umständen.

 

 

Zwei Arbeitsleben

Mein Vater hatte unmittelbar nach seinem Abitur am Heinrich-Hertz-Realgymnasium 1934 eine Lehre als Außenhandelskaufmann begonnen – bei der Firma Tuboflex, die seinerzeit an der Schäferkampsallee, nach dem Krieg in Ottensen Schläuche her­stell­te; dort arbeitete er bis März 1939 und wechselte dann als Fremdsprachen­korrespon­dent zur Harburger Gummiwaren-Fabrik Phoenix. Sein nächster „Beruf” war Soldat, und der führte ihn nach Nordafrika, wo die Wehrmachtseinheiten unter Erwin Rom­mel 1943 kapitulierten. Wohl während eines Heimaturlaubs heiratete er 1944 die Stabshelferinnenführerin Marga H.; die Ehe hatte bloß drei Jahre Bestand. Im Frühjahr 1945 gelang ihm gerade noch rechtzeitig die Rückkehr von der Ostfront über die Halbinsel Hela bei Danzig nach Norddeutschland, wo er als Oberleutnant kurzzeitig in britische Kriegsgefangenschaft geriet. Im selben Jahr fand er zunächst wieder Anstellung bei der Phoenix, ehe das Arbeitsverhältnis aufgrund der Kriegsschäden auf dem Firmengelände unterbrochen wurde. Ab 1946 verdiente Fritz sein Geld nacheinander bei der Spedition Lembke an der Hochallee, beim Reichs­auf­sichtsamt für das Versicherungswesen im Europahaus, bei Paul Busse Im- und Export sowie in einer Daimler-Benz-Niederlassung. Im Januar 1948 zur Phoe­nix zurück­ge­kehrt, lernte er dort meine Mutter kennen (und – mit einer bekann­ten Auswirkung – lieben).

Unseren Umzug in die Nähe von Ludwigshafen verdankten wir dem Angebot seiner beruflichen Besserstellung (Prokura) bei den Pfälzischen Plastic-Werken (Pegulan) in Frankenthal durch den berühmt-berüchtigten Arisierungsgewinnler Fritz Ries, Hono­rar­konsul von Marokko und späterer Schwiegervater von Kurt Biedenkopf. Für die Pegulan baute mein Vater ab 1952 deren globalen Vertrieb auf – sein individueller Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder –, wozu er um die halbe Welt reiste, insbe­son­dere häufig in den Nahen Osten und nach Indien. Fünf Jahre später lockte ihn die Lederfabrik C. F. Roser nach Stuttgart-Feuerbach; ich kann nur vermuten, dass seine dortige Stellung (Aufbau einer internationalen Vertriebsabteilung) eine weitere Ver­besserung seiner Position bedeutete. Ich besitze zwar zahlreiche seiner Arbeitszeug­nis­se, aber zu Details seiner Beweggründe unserer kleinen Odyssee durch Deutsch­land während der 1950er habe ich ihn leider nie befragt.

Lange eine Metallfabrik, im 21. Jahrhundert zunächst ein Hotel, dann eine Flüchtlingsunterkunft, 2020 leerstehend und 2023 erneut Herberge für Geflüchtete

Dieses Kapitel im Schwobeländle dauerte nur knapp zwei Jahre, dann erforderte Fritz‘ Verpflichtung als Verkaufsleiter und Prokurist erneut den Umzug unserer Familie. Für die folgenden neun Jahre war Robert Zinn, Engels & Co., kurz Zinco, Fritz′ Arbeit- und Brötchengeber. Der Hersteller von Ösen und Nieten für die Textilindustrie produzierte in einem prachtvollen gründerzeitlichen Industriebau an der Bockmühle in Heckinghausen, wo ich meinen Vater später gelegentlich bei der Arbeit besuchte und auf einem Spirit-Carbon-Drucker die Matrizen unserer Tipp-Kick-Vereinszeitung vervielfältigte. 1968 wurde die Firma von einem ihrer beiden Wuppertaler Konkurrenten (Witte & Co.) übernommen, nicht jedoch ihre leitenden Angestellten – mit der Folge, dass die gesamte erarbeitete Alterssicherung meines Vaters von einem auf den anderen Tag bei null D-Mark stand; ein gesetzlicher Sicherungsfonds für solche betrieblichen Vorsorgeeinrichtungen wurde in Deutschland erst später zur Pflicht.

An Fritz‘ 75.: Familienauftrieb in Reinbeks Loddelallee mit Ingrid, Thea, Margret, Ilse, Reinhold, Rüdiger und mir (v.r.n.l.)

Was blieb Fritz, zu diesem Zeitpunkt auch schon 54, anderes übrig: In einem Alter, in dem andere bereits die Dauer bis zum Eintritt in den wohlverdienten Ruhestand herunterzählen, musste er sich eine neue Existenz aufbauen. Und er schaffte das. Er zog noch vor meinem Abitur nach Reinbek, machte sich als Handelsvertreter selbständig und sorgte in den nächsten zwei Jahrzehnten dafür, dass meine Eltern ihren Lebensabend doch noch angemessen verbringen konnten. Welch eine Energie!

Meine Mutter durfte kein Abitur machen („Ein Mädchen braucht das nicht”) und schloss ihre Schulzeit 1937 am Graudenzer Weg in Dulsberg mit der mittleren Reife ab; ihr letztes Zeugnis war innerfamiliär das mit Abstand beste. Die firmenseitig verkürzte kaufmännische Lehre bei der Verlagsgesellschaft der deutschen Verbraucher­genos­senschaften mündete nahtlos in ihre Weiterbeschäftigung ein. Während des Kriegs arbeitete sie im ab 1941 besetzten griechischen Thessaloniki als Sekretärin bei einer zivilen Behörde oder einer privaten Institution (Spedition Schenker?). Von dort verschlug es sie 1944 nach Thüringen, wohin ihre Eltern, wie viele ausgebombte Hamburger, vorübergehend umgesiedelt worden waren. Direkt nach der Befreiung Europas von den Nazis machte der Chef der regionalen US-Militär­ver­wal­tung, Major Hobart S. Dawson, sie zu seiner Dolmetscherin, von Mai bis Juli 1945 in Rudolstadt und anschließend in Kassel, wo sie 1946 Astrid zur Welt brachte. Bereits fünf Monate später arbeitete sie wieder, diesmal bis Juli 1947 für die amerikanischen Special Services in Bad Nauheim.

Danach kam sie nach Hamburg zurück, ging zur Phoenix und traf an ihrem Arbeitsplatz ihren späteren Mann. Ab August 1950 folgten Jahre als „Nur”-Hausfrau-und-Mutter, ehe sie 1967 wieder eine Stelle als Fremdsprachenkorrespondentin bei der Maschinenfabrik Hacoba am Rand der Barmer Anlagen (Ottostraße) annahm. Im Oktober 1969 folgte sie Fritz nach Norddeutschland, arbeitete dort zunächst bei der Intercard und führte fortan sein Büro.

Übrigens muss die relative Leichtigkeit, mit der Fritz′ und Ingrids Sohn später Fremdsprachen erlernte, aus deren DNA stammen: Mein Vater hatte als Schüler Latein-, Englisch- und Spanisch-Unterricht bis zum Abi, und später eignete er sich auch noch Französisch an; bei meiner Mutter war nur Englisch Schulfach, aber sie brachte sich ebenfalls Französisch bei, und viel später überraschte sie uns alle noch mit Schwedisch.
Anfang 1961 trafen sich die Eltern meines Meyerstraßen-Mitschülers Harald Kayser und meine zufällig bei der Anmeldung am Carl-Duisberg-Gymnasium und besprachen miteinander, ob Englisch oder Latein die geeignetere erste Fremdsprache wäre, worüber Fritz und Ingrid sich bis dahin noch im Unklaren waren. Es wurde die „tote Sprache”, und diese Entscheidung fand ich später vollkommen richtig. Denn sie hat mir den Erwerb romanischer Sprachen, insbesondere des Wortschatzes, unglaublich erleichtert. Darauf musste ich dann bloß noch die jeweils korrekte Aussprache anwenden, und dafür besaß ich offensichtlich ein glückliches Händchen.

 

Wuttke-Lyrik

Mein Großvater Friedrich – von uns Jüngeren zur besseren Unterscheidung posthum ‚Der alte Fritz’ oder Fiete genannt – besaß in den frühen 1930ern einen Käseladen in Eimsbüttel, den er mit dem Slogan

Jung soll das Mädel, alt der Wein,

der Käse muss von Wuttke sein.

bewarb. Trotz dieser brillianten Idee hielt sich das Geschäft nicht allzu lange; Eimsbüttel war wohl einfach noch nicht reif für Poesie.

Über den alten Fritz existiert eine erkleckliche Reihe weiterer Stories – ich sage nur „Wanduhr, Konfirmationsanzug seines jüngsten Sohnes, längere häusliche Absenz, rumänische Herkunft einer seiner Schwiegertöchter, Muckefuck, Rauchen seiner anderen Schwiegertochter in der Henriettenstraße”. Diese Eigenschaften sind zwar vielleicht mit den Jahren des Weitererzählens immer pointierter skizziert worden, machen eins aber deutlich: Ein langweiliger Normalo war das nicht! 😀 Und seine beiden Söhne sind ja auch ohne Käse erfolgreiche Kaufleute geworden.

 

 

Drei Schulz-Brüder

Kurz nach meiner Geburt wohnte ich eine Zeit lang bei Tante Erna und Onkel Werner in der Henriettenstraße; in dieser großen Altbauwohnung war offenbar nicht nur Platz für drei Schulz-Söhne. Das hing wohl mit Fritz‘ Berufstätigkeit und Ingrids postnatalem Gesundheitszustand zusammen, denn ihre 2-Zimmer-Neubauwohnung an der Steilshooper Straße, errichtet von der Baugesellschaft für Flüchtlinge und Ausgebombte, hatten sie schon kurz vor meiner Geburt bezogen, nachdem sie bis dahin Untermieter in Harburg gewesen waren. Auch Astrid war zuvor extern – bei Mutters Eltern anfangs in Rade (Nordheide), dann in HH-Meiendorf – untergebracht. Erinnerungen an diese Zeit habe ich natürlich keine.


Bei späteren Besuchen hatte es mir von meinen drei Cousins insbesondere Uli angetan, und das sicher vor allem, weil seine selbstgebaute Modelleisenbahn einen Teil des Wohnzimmers einnahm und er mich vorsichtig daran ließ. Uli war ein echter Tüftler, der Hamburg dann bald verließ, um zunächst bei Gummi-Mayer in Landau, anschließend mehrere Jahrzehnte in Zürich zu arbeiten und zu leben. Ihn sah ich erst in den 2000ern wieder, als er nach Norddeutschland zurückgekehrt war. Da lebte sein Bruder Peter schon nicht mehr, mit dem ich am wenigsten zu tun hatte. Dabei war er, wie auch seine Mutter Erna, ein Grüner der ersten Stunde gewesen, und in diesem Kontext hat er mich ein einziges Mal in seine Wohnung auf St. Pauli eingeladen, bald nachdem ich Bezirksabgeordneter in Altona geworden war. Vielleicht kein Wunder angesichts der mehr als zwei Lebensjahrzehnte, die er mir voraus hatte.

Zu Rüdiger, Tante Ernas Jüngstem, aber auch noch zehn Jahre älter als ich, hat sich im 21. Jahrhundert eine Freundschaft entwickelt; dabei gab es auch zwischen uns eine lange „Sendepause”, nachdem er uns Mitte der 1960er mal in Wuppertal besucht und ich ihm die Stadt gezeigt hatte – zwanzig Jahre danach trafen wir uns sporadisch bei Familientreffen, noch später auch bei dem weniger schönen Anlass von Beisetzungen. Er lebte schon lange kurz hinter Quickborn, wohin mein Vater nach dem Tod meiner Mutter noch umzuziehen plante, woraus dann nichts mehr wurde. Seither besuchten wir uns umschichtig einige Male im Jahr, und unser gemeinsames Silvester-Raclette in Wedel hatte inzwischen schon eine kleine Tradition.
In dieser Zeit hat Rüdiger einen, wie ich finde, beeindruckenden Wandel vollzogen. Beruflich lange als Kaufmann erfolgreich, Hockey- statt Fußballspieler, zudem mal Geschäftsführer des Hamburger Sportbunds und Kommunalpolitiker für die CDU, wurde er in seinen Einstellungen und seinem Handeln durch und durch grün. Zuletzt versucht er noch, andere für die Idee eines grünen Ortsverbands an seinem Wohnort zu begeistern. Für diese Veränderung waren in vorderster Linie zwei Dinge verant­wort­lich: Margret, seine Frau, und die Imkerei, die er als spät begonnenes Hobby, aber mit der ihm eigenen Aktivität und Kompromisslosigkeit betrieb. So wie er ganz zuletzt bestimmt hat, wann Schluss war, als für ihn der Zeitpunkt gekommen schien.

 

 

Man muss auch mal Realität ignorieren dürfen

1965 stieg Schalke 04 als Tabellenletzter aus der Bundesliga ab, spielte aber in der folgenden Saison dennoch weiter erstklassig. Wie das? Der DFB entschied, die Liga in der neuen Saison mit 18 statt bisher 16 Mannschaften fortzusetzen und dafür niemanden absteigen zu lassen. Das Wort von der „Fußball-Mafia DFB” war damals noch nicht geläufig, aber der Verdacht lag nahe, dass der Verband eine Lex Schalke geschaffen habe.

Mein Vater – in jungen Jahren übrigens ein wirklich guter Schwimmsportler beim Polizei SV – allerdings, der damals am Ende jedes Spieltags eine aktuelle Tabelle erstellte, führte diese unter Auslassung aller Ergebnisse der beiden eigentlich abgestiegenen Klubs – der andere war der Karlsruher SC – weiter.

Warum ich das erzähle? Nun, die Liebe zu diesem Sport, zum Führen von Tabellen und Statistiken sowie das darin erkennbare Gerechtigkeitsempfinden hat mein Vater mir offenkundig vererbt – ebenso wie eine andere Besonderheit: Fritz‘ Verdikt „Nur Jubi!” war in der Wentorfer Elternwohnung ehernes Gesetz, und auch bei mir kommt – einerlei, ob zuhause oder in der Fremdgastronomie – ausschließlich Aalborg Jubilæums Akvavit in das Digestif-Glas; Helbing hingegen is only for beginners.

Bei manchem bin ich sogar richtiggehend pingelig. So prüfe ich Rechnungen nicht bloß auf ihre Stimmigkeit, sondern mahne auch deren Korrektur an, wenn sie einen Fehler enthalten. Da kann es schon mal vorkommen, dass ich für einen Erstattungsbetrag von 1,22 Portokosten von 1,45 berappe. Kleinlich und rachsüchtig, der Typ! 😉

 

Mein Rufname

Den Namen Olaf fand und finde ich bis heute passend und wollte auch nie anders heißen. Es war meine Mutter mit ihrem Faible für Skandinavisches, die maßgeblich für diese Benamsung verantwortlich war, und meine Schwester hatte ja schon die Astrid abbekommen. Die Geschwisternamen waren also Ton in Ton. Dabei waren beide in Deutschland insbesondere in meiner Kindheit eher ungewöhnlich, und das bekam ich zum ersten Mal 1957 mit, als wir gerade Neubürger Stuttgarts geworden waren. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene fragten wiederholt nach, wenn ich mich vorstellte: „Do heisch Ulla?” Kannitverstaan in Dummschwaben halt!

O. Grossebaf

In den 1970ern und dann speziell in Frankreich kam mir bei erstem Vorstellen zuhilfe, dass dort ein Häuptling in Astérix et les Normands den Namen Olaf Grossebaf trägt und ich auch überhaupt kein Identitätsproblem damit hatte, dass Grossebaf übersetzt sowas wie kräftige Maulschelle bedeutet. Anstrengender war schon, dass es in Deutschland einen Werbespot für Wick Formel 44 gab, der um einen glatzköpfigen jungen Mann kreiste; der Satz „Olaf hat Husten” verfolgte mich tatsächlich etliche Jahre. Heute kann ich darüber nostalgisch schmunzeln. Und noch zwanzig Jahre später erschien mit Volker Kriegels Olaf, der Elch ein hübsches kleines Bilderbuch über einen tierischen Sympathieträger, das außer mir aber offenbar niemand gelesen hat; jedenfalls gab es dazu aus meinem Bekanntenkreis keine Kommentare.

 

 

Der 18. Oktober

… ist exakt ein Datum von 366, also gerade mal 0,273%. Mithin dürfte es derzeit etwa 21 Millionen Menschen geben, die diesen Tag mit mir teilen. Sieben von ihnen mag ich ganz besonders, nämlich Chuck Berry, René Bliard, Klaus Kinski, Melina Mercouri, Martina Navrátilová, Laura Nyro und Guy Roux. Leider leben aktuell nur noch zwei von ihnen. Und noch jemand mich extrem Prägendes erblickte an diesem Datum – es war mein siebter Geburtstag – das Licht der Welt: Paul McCartney und John Lennon traten mit den Quarry Men zum ersten Mal gemeinsam auf.

 

 

Keine Wuttkes mehr?

Natürlich wird es sie weiterhin geben. Die deutschsprachige Wikipedia beispielsweise führt 20 Namensträger (nur in der Schreibweise mit Doppel-t und nur solche ohne Doppelnamen) auf, die sie für relevant hält und von denen knapp die Hälfte noch lebt. Drei weitere kenne ich alleine aus Hamburg persönlich. Darunter ist allerdings niemand, von dem mir bekannt wäre, dass er wenigstens einigermaßen nah mit meiner Familie verwandt ist; und bei einigen von ihnen bin ich darüber sogar ziemlich froh. Gell, Martin? Gell, Wolfram? Aber mein Zweiglein dieser Sippe hat tatsächlich keine Kinder mehr, die unseren Namen weitertragen, und wenn nicht noch etwas völlig Überraschendes passiert, bleibt das auch so. Die Linie stirbt aus. Was der Welt freilich am Achtersteven vorbei geht; denn die Menschheit wird sie auch ohne uns weiter zugrunde richten.

Harald und Udo

Dabei stand ich schon einmal kurz vor einer solchen Überraschung. Bei einem Besuch in Wuppertal, wohl um die Jahrtausendwende, bestanden Udo H. und zwei, drei weitere Bekannte darauf, mich abends in eine ganz bestimmte Kneipe auszuführen. Auf meine Frage, weshalb gerade dorthin, murmelten sie nur Unverständliches in ihre Bärte. Diese Schankwirtschaft lag in Elberfeld, oberhalb des Döppersbergs und nicht allzu weit von der Adersstraße entfernt, wo ich 30 Jahre früher häufig eingekehrt war, bis Fongi und Jette weit nach der Sperrstunde tatsächlich dicht machten und ich zu Fuß viele Kilometer nach Vohwinkel latschen musste. Wenn sich nicht noch eine barmherzige Gästin fand, die bereit war, ihr Kopfkissen mit mir zu teilen.

Abends, das erste frisch Gezapfte vor uns auf dem Tisch, wies mich einer der Kumpels auf eine Frau hin, die in einem anderen Teil der Gaststube bediente. Sie erzähle nämlich schon seit langem herum, dass Olaf, der Vater ihres Sohns, noch vor dessen Geburt Ende 1970 nach Hamburg abgehauen sei. Ob ich sie erkenne? Um es kurz zu machen – ich ging zu ihr hin und fragte sie, ob mein Gesicht ihr auch nur entfernt bekannt vorkomme. Nachdem sie das rundheraus verneinte und zudem nie einen Olaf gekannt haben wollte, brauchte ich mir über eine späte, plötzliche Vaterschaft auch keine Gedanken mehr zu machen. Damals war ich darüber durchaus erleichtert.

 

Wie alles endet

Altonaer Hauptfriedhof

Wie alles anfing, lässt sich präzise beschreiben. Hinten im Leben sieht das völlig anders aus.

Mein Todesdatum auf Basis der Sterbetabelle des Statist­ischen Bundesamtes soll der 17.9.2034 werden. Nach dem Todesuhr-Test bei testreich.com tritt dieses Ereignis sogar erst 2038 oder 2039 („als 88-Jähriger”) ein, während mir wie-alt-werde-ich.de den April 2033 prognostiziert. Selbst da muss ich aber erst mal hinkommen; und wenn ich dort ange­kom­men bin, werde ich das hier nicht mehr eintragen können.

 

Dann gilt für euch:(¹)

Si je perds les pédales
et si ça vous inquiète
si ça vous fait trop mal :
je ne sais plus qui vous êtes.
Et si je perds la boule
n’ayez pas trop pitié :
ma tête est une foule
des visages oubliés.

 

(¹) Wenn ich ganz aus den Pantinen kippe und euch das beunruhigt, ja, schmerzt: Ich weiß dann eh nicht mehr, wer ihr seid.
Und wenn meine Birne hohl wird, bemitleidet mich nicht zu sehr: Durch meinen Kopf geistern sowieso bloß noch Gesichter, deren Namen ich vergessen habe.

Euch bleibt ja immerhin noch dies: Fill to me the parting glass and drink a health whate’er befalls.

 


 

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