Vier Jahrzehnte Grüne

Panta rhei (Alles fließt)

Der Fußballsport, das politische Europa, die Preise für Currywurst und Pommesmajo, Politik und Personen der Grünen, auch dieser Wuttke – nichts davon ist in den 2020ern noch so, wie es in den 1980ern war. Und ohne Sinnsprüche wie «Wandel und Wechsel liebt, wer lebt» oder «Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können» überzustrapazieren: So ist der Lauf der Dinge, ob man das nun begrüßt oder bedauert.

Wesentliche Veränderungen dieser Partei, die ja nicht mal mehr so heißt wie zu Beginn, werde ich auf dieser Seite aus meiner subjektiven Wahrnehmung darzustellen versuchen. Und dabei nicht vergessen, die eigene Beteiligung an diesem Prozess, die eigene Rollen- und Wertmaßstabsentwicklung im Auge zu behalten. Das auf die Reihe zu bekommen wird einige Zeit kosten. Es kann also noch dauern, bis das hier rund und vollständig ist.

 

1980er

Bei der Gründung im Jänner 1980 waren wir ein „unmögliches Projekt”. Da wuchs zusammen, was gar nicht zusammengehört; die Spannweite von links- bis rechtsaußen, von hierarchiefreier Bürgerinitiative über Splitterparteien bis zur stalinistischen Kaderorganisation war ein Spagat ohne Vorbild. Kleinster gemeinsamer Nenner war die Befürwortung des seit dem Club of Rome (Die Grenzen des Wachstums, 1972) und der ersten Ölkrise (1973) zunehmend ins öffentliche Bewusstsein dringenden Umweltschutzgedankens, insbesondere die Ablehnung der Atomkraft, sowie die Erkenntnis, dass viele einzelne kleine Initiativen und Vereine weniger durchsetzungsfähig sind – also das Nur-gemeinsam-sind-wir-stark. Das Motto „sozial, ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei“ und der Anspruch, eine „Anti-Parteien-Partei“ zu sein, bestimmten in den Jahren bis zur deutschen Wiedervereinigung und dem, was diese mit den Grünen anrichtete, unseren inhaltlichen Kurs wie unsere internen Diskurse. Rotationsprinzip, Frauenquote, Trennung von Amt und Mandat, Flügelschlagen zwischen „Fundis und Realos” markierten Eckpunkte der organisatorischen Debatten – im Bund, in den Landes- und den Kreisverbänden.

Verdamp lang her

In Altona wie in Hamburg war grün seinerzeit links; der rote Biber ballte die Faust vor der Sonnenblume. Das galt auch für mich, in der Eigen- wie in der Fremdwahrnehmung. Wir stellten programmatisch wie in der Gremienpraxis kompromisslos unsere Forderungen und Anträge, die fast immer von den drei Altparteien – es gab ja nur SPD, CDU und (nicht mal durchgehend) FDP – abgefiedelt wurden. Tatsächlich erinnere ich aus den ersten vier Jahren nur genau drei Anträge, die dann auch eine Mehrheit fanden: Bei dem einen ging es darum, auf einzelnen Pkw-Parkplätzen im öffentlichen Straßenraum private Fahrradhäuschen zu errichten. Ein weiterer machte sich für die Aufhebung der Unrechtsurteile des hiesigen NS-Sondergerichts im Zusammenhang mit dem Altonaer Blutsonntag von 1932 sowie die Benennung öffentlicher Flächen nach vier von dessen Opfern (Bruno Tesch & Konsorten) stark. Der dritte schließlich erklärte Altona einschließlich seiner Elbdurchfahrt zum Hamburger Hafen zur atomwaffenfreien Zone; dieser Beschluss hielt Hamburgs hochwohllöblichen Senat freilich nicht davon ab, ein britisches Atom-U-Boot einzuladen und zu empfangen.

Ansonsten war die GALtona den anderen Parteien entweder eh in jeder Hinsicht suspekt, oder sie wollten uns erziehen. Dies traf speziell auf die Sozialdemokraten zu, weil sie den größten Teil von uns für ihre vorübergehend verblendeten und abtrünnigen Rabauken hielten, die aber bald schon wieder Vernunft annehmen würden. Das sollte sich als Irrtum erweisen, nicht nur, weil Hamburgs Sozialdemokratie als die CSU innerhalb der Bundes-SPD galt, wie der SPIEGEL schrieb. Die wechselseitige Ablehnung führte zu den „Hamburger Verhältnissen”, also fehlenden Regierungsmehrheiten, was sowohl 1982 als auch 1987 nach wenigen Monaten Neuwahlen in Bürgerschaft und Bezirksversammlung erforderlich machte.

Bei aller inhaltlichen Radikalität und Unterschieden in den persönlichen Positionen herrschte im internen Umgang miteinander Entspanntheit; Humor bis hin zu ironi­scher Kritik an unseren Parteigrundsätzen waren noch keine Tabus.
Ein Beispiel gefällig? Eins, das im 21. Jahrhundert absolut unvorstellbar wäre? Gerne doch: Ob die Tatsache, dass die grüne Fraktion in Hamburgs Landesparlament sich zwischen 1986 und 1991 ausschließlich aus Frauen zusammensetzte, nun kausale Ursache oder bloß zufällige Gleichzeitigkeit war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Jedenfalls bestanden unsere weiblichen Abgeordneten in Altona 1988 darauf, dass ich offiziell die Rolle des frauenpolitischen Sprechers in der BV über­nehme. Ich! Ein Mann! Der Preuße in mir beugte sich diesen Ansinnen, auch wenn ich davon nicht übermäßig begeistert war. Weder die Thematik noch die Außenwirkung schienen mir passend. Es dauerte zwei Monate, dann hatte ich sie überzeugt, dass diese Funktion bei einer Frau besser aufgehoben ist.

Sogenannte Realpolitiker, die sich in einem eigenen Flügel organisierten, gab es bei uns, anders als in anderen Landesverbänden (Hessen, Baden-Württemberg), kaum. Der bildete sich in Altona erst 1989, spaltete sich Anfang 1990 als Grünes Forum von der GAL ab und kehrte 1991 – gestärkt – zurück. Das fiel zeitlich mit dem Prozess der Annäherung zwischen Westpartei und Ost-Bürgerbewegungen zusammen. Zu den strukturellen, inhaltlichen und personellen Veränderungen, die dieses Zusammenwachsen auslöste, trug maßgeblich auch das Scheitern der Grünen (West) bei der Bundestagswahl Ende 1990 bei.

Den nur sehr zögerlichen Wandel unserer Einstellung zur Politik hat Jörg Wischermann für Hamburg in seiner erweiterten Dissertation kurz und knackig als «Anpassung und Gegenwehr» charakterisiert. Aus meiner persönlichen Sicht überwog in den 1980ern «Gegenwehr» noch eindeutig.

Kleine Arabeske vom Rand Altonas: Mitte 1990 lösten sich Wedels Grüne als „Reaktion auf die vermeintliche Anpassung der Landes- und Bundespartei an den ‘Zeitgeist’, dem … auch politische Inhalte geopfert werden”, selbst auf; ihre vierköpfige Ratsfraktion arbeitete allerdings weiter.

 

1990er

2001 ohne mich

In Altona war davon vergleichsweise wenig zu spüren. Ein Rechtsruck setzte erst um das Jahr 2000 ein, betraf anfangs auch eher die Partei als die Fraktion. In Letzterer waren etliche schon seit Anfang der 1980er aktiv, wie Martin Below, Anna Bruns und ich. Neu gewählte Mitglieder entsprachen fast immer dem vorherrschenden linke(re)n Profil oder schlossen sich diesem an. Schließlich wurde unsere Lokalpolitik von den Wählern bereits ab 1986 mit zweistelligen Prozentzahlen honoriert, und der Weg führte mit Ausnahme von 1987 stetig bergauf (siehe Tabelle). Zudem hatten sich unser Stil wie unsere Inhalte gegenüber den frühen Jahren in Richtung von mehr Pragmatismus entwickelt. Dies manifestierte sich 1994 im hamburgweit erstmaligen Eingehen einer Koalition mit der Bezirks-SPD. Mein persönliches Motiv als grüner Fraktionschef, diesen Vertrag auszuhandeln und umzusetzen, war das Interesse, für unsere guten Ideen auch sichere Mehrheiten zu organisieren – Realismus in Reinkultur. Das ging in den ersten zweieinhalb Jahren auch ziemlich gut, führte sogar dazu, dass die Sozialdemokraten schon bald ihren in eine Selbstbereicherungsaffaire verstrickten Fraktionsvorsitzenden Michael Pape und einen weiteren Abgeordneten, der persönlich von der Ausweisung eines neuen Baugebiets am Rand des Rissener Klövensteens profitiert hätte, austauschen mussten. Als es in der Zusammenarbeit mit fortschreitender Zeit aber zunehmend knirschte, als die SPD bei nicht fest vereinbarten Themen – beginnend mit dem Ultimatum, die Koalition sofort zu beenden, wenn wir ihren Genossen Uwe Hornauer nicht zum Bezirksamtsleiter mitwählen – den Herr-im-Haus-Standpunkt durchsetzen wollte und wir durchaus medienwirksam zurückschossen, verschob sich nicht nur bei mir die Schmerzgrenze von der Kompromissbereitschaft wieder zurück zum stärker konfrontativen Kurs.

Unser Landesverband hingegen – und auch einige Mitglieder in Altonas Kreisvorstand – wollte nach der 1997 bevorstehenden Bürgerschaftswahl partout mit der SPD an die Fleischtöpfe der Regierung, und da kamen solche bezirklichen Signale, die lokale Zusammenarbeit nicht länger fortzusetzen, natürlich denkbar ungelegen. Krista Sager, die dann auch prompt Senatorin wurde, behauptete, der Koalitionsbruch sei „ein Alleingang von Herrn Wuttke” gewesen, was ich alleine schon wegen der Titulierung als „Herr” in einer Partei, in der man sich normalerweise mit „LieFreundinnFreunde” begrüßt, ziemlich komisch fand. Weder war das eine Solonummer gewesen, noch nahmen es uns die Wähler krumm: Altonas Mitglieder bestätigten mich in einer 60:40-Kampfabstimmung gegen Peter Schwanewilms, den Favoriten unserer Realo-Gurus (Martin Schmidt, Jo & Christine Müller, Sabine Boehlich, Kurt Edler), ein weiteres Mal auf Listenplatz 2, und die Wählerschaft hievte diese GALtona auf einen neuen Rekordwert. Unsere neue Bezirksfraktion entschied anschließend nahezu einmütig, keine erneuten Koalitionsverhandlungen mit der SPD aufzunehmen.

Was mich schon nach der Bürgerschaftswahl 1997 enorm gestört hat: Dass meine Partei die ihr bei Regierungsbeteiligung zustehenden Ämter nicht etwa nach Fähigkeiten und Qualifikationen verteilt – womit sie sich um keinen Deut von allen anderen unterscheidet. Bei den für Stadtentwicklung zuständigen grünen Senatoren waren sowohl Willfried Maier, mit dem ich zwischen 1997 und 2001 selbst vielfach persönlich zu tun hatte, als auch Anja Hajduk (2008 bis 2010) fachlich glatte Fehlbesetzungen. Beide wären viel geeigneter gewesen, einer anderen Behörde vorzustehen. Da die aber bei den jeweiligen Koalitionsverhandlungen an den größeren Partner ging, zog der Landesverband nicht etwa die Konsequenz, thematisch beschlagene Grüne für die von ihm zu besetzenden Senatorenposten zu benennen, sondern bspw. der gute Willfried – übrigens gleichfalls Absolvent des Carl-Duisberg-Gymnasiums in Wuppertal – musste sich mit Themen herumschlagen, zu denen er keinerlei Affinität besaß. Darauf, dass auch Anna Gallina, seit 2020 Justizsenatorin, in diese „Schublade der Fachfremden” passt, deutet zumindest die wiederholte Medienkritik an ihrer Bestellung und kaum wahrnehmbaren Amtsführung hin.

Ironie der Parteienlandschaft: Mitte bis Ende der 90er Jahre begann bei der CDU in Altona ein vorsichtiger programmatischer Wandel zur Großstadtpartei, der im folgenden Jahrzehnt – dann unter Gesche Boehlich, meiner unmittelbaren Nachfolgerin als GALtona-Fraktionschefin – zu einer stabilen grün-schwarzen Zusammenarbeit führte, und das einschließlich gemeinsamer Beschlüsse in brisanten Themen wie der Verkehrspolitik (Tempo 30 auf der Stresemannstraße), der Festschreibung einer Existenzberechtigung von Bauwagenplätzen und bei Integrations- wie Flüchtlingsfragen. Natürlich verband die CDU damit auch eigene strategische Ziele, wollte in der Stadt, die seit einem halben Jahrhundert SPD-Beute war, mehrheitsfähig werden (was dann 2001, wenngleich zunächst dank dem rechtspopulistischen Steigbügelhalter „Richter Gnadenlos” Schill, ja auch gelang). Die meisten Protagonisten dieser neuen christdemokratischen Linie waren auch schon zu meiner BV-Zeit aktiv, und namentlich mit Uwe Szczesny, Sven Hielscher, Elisabeth Will, Markus Weinberg und Peter Wenzel hatte sich ein entspanntes, offenes Verhältnis entwickelt, politisch wie menschlich. Letzteres traf übrigens auch auf Gisela Suermann zu, die Fraktionsvorsitzende der Pünktchen­partei. Dass es ein strategischer Fehler sei, sich ausschließlich auf ein Bündnis mit der SPD zu versteifen, hatte ich schon relativ früh in einem Interview mit der Morgenpost begründet; ohne Offenheit für andere Optionen – wenn sie denn auch eine deutliche Grüne Handschrift aufwiesen – begebe man sich sonst in eine „babylonische Gefangenschaft” und werde leichter erpressbar.

Auf der Bundesebene hatte sich aufgrund des Scheiterns der Westgrünen bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 und einhergehend mit dem daraufhin einsetzenden, 1993 besiegelten Ost-West-Vereinigungsprozess zu Bündnis 90/Die Grünen ein Rechtsruck beschleunigt; zumindest habe ich die Veränderungen meiner Partei so wahrgenommen. Kennzeichen waren eine gewisse „Verbürgerlichung” sowie eine stärkere inhaltliche Differenzierung, die sich in vier Strömungen äußerte. Die (gemäßigten) Linken, für die etwa Ludger Volmer, Antje Radcke, Christian Ströbele und Jürgen Trittin standen – linke Fundamentalisten und Ökosozialisten wie Rainer Trampert oder Jutta Ditfurth hatten die Partei bereits verlassen – sowie die oft auch die eigene Karriere im Auge behaltenden Hardcore-Realos wie Hubert Kleinert, Joschka Fischer, Fritz Kuhn und Reinhard Bütikofer bildeten sozusagen die äußeren Flügel. Irgendwo dazwischen oszillierte der Grüne Aufbruch um Antje Vollmer. Und aus der Ostzone erbten wir ein dauervorwurfsvolles, in der gesamtdeutschen Realität noch nicht angekommenes, teilweise auch sozial-christlich geprägtes Mitglieder­milieu, dessen unterschiedliche Ecken mit seinen Protagonisten Konrad Weiß, Gunda Röstel und Katrin Göring-Eckardt umrissen werden können. – Den Schuh, dass man diese Darstellung total unsachlich, höchst ungerecht und fürchterlich klischeehaft finden könnte, ziehe ich mir übrigens an.

Altonas Regenbogen in Schwarz-Weiß

Mit dem Eintritt in die Regierung Schröder und allem, was Grüne darin ab 1998 mitmachten – von der Aufgabe unseres konstitutiven pazifistischen Grundkonsenses bis zur Agenda 2010 −, war die endgültige Verortung in der politischen Mitte abgeschlossen. In Hamburg löste der Beschluss des Bielefelder Parteitags vom Mai 1999 zu einer deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg eine Austrittswelle aus, die in Bürgerschaft wie einigen Bezirksversammlungen zur Bildung einer neuen Gruppe bzw. Fraktion unter dem Dach der Wählervereinigung REGENBOGEN – für eine neue Linke führte. In Altona vollzogen vier der zehn Abgeordneten (Sigrid Lemke, Dieter Neitzke, Susanne Böhmcker und ich) sowie etwa die Hälfte der zugewählten Bürger diesen Schritt mit; zwei weitere Abgeordnete entschieden sich auf der letzten gemeinsamen Fraktionssitzung Ende Mai dann doch noch kurzfristig um und blieben bei den Grünen.

Bevor wir dieser neuen Wählervereinigung beitraten, hatte ich mich mit dem Vorstand des Südschleswigschen Wählerverbands in Flensburg darüber unterhalten, ob er sich vorstellen könnte, eine Fraktion in der BV des urholsteinischen Altona zu bekommen. Schließlich gab und gibt es zahlreiche programmatische Berührungspunkte mit den Grünen, weswegen wir das sofort gemacht hätten; aber der SSW befürchtete, dadurch in Konflikt mit dem Minderheitenprivileg zu geraten.

Wenn man so will, setzten wir dann als REGENBOGEN bis zum Herbst 2001 die konstruktive, punktuell aber nach wie vor kompromisslose GAL-Politik fort, die die Grünen selbst nicht mehr repräsentierten:  „So spielen Ökologie und Naturschutz eine immer geringere Rolle, der Atomausstieg wird unter dem Druck der Koalitionspartner verzögert, eine zukunftsorientierte Verkehrspolitik dem Regierungsfrieden geopfert. Und auch sozialpolitisch vertritt unsere ehemalige Partei nurmehr die Interessen der wirtschaftlich gesicherten Mittelschichten.” (aus meiner Erklärung unseres Austritts an Mitglieder und Medien vom 21.5.1999)

Nach dem – in Altona mit 4,4 % recht knappen – Scheitern bei den Wahlen im September 2001 haben sich einige Regenbogen-„Dissidenten” der neuen Partei Die Linke angeschlossen, so z.B. im Bezirk Wolfgang Ziegert, auf Landesebene Heike Sudmann und Norbert Hackbusch.

Bündnisblau statt rotbiberig

Im Frühjahr 2012 verabschiedete sich der Landesverband nicht nur von seiner bestens eingeführten Markenbezeichnung Grün-Alternative Liste, sondern garnierte diese Umetikettierung zu Bündnis 90/Die Grünen Hamburg mit der Begründung „Wir sind keine Liste mehr, sondern eine Partei“. Was einerseits nicht falsch ist.

 

Die Nullerjahre: Ohne mich

Eminem hatte recht mit seinem 2002 veröffentlichten Sehrgroßerfolg (für deutsch­sprachige Leserinnen: Mega-Hit) Without me. In dieser Dekade war ich nicht bei den Grünen, und das ganz ohne Parental advisory. Insofern fasse ich mich hier sehr kurz, weil von außen nicht dasselbe ist wie von innen zu beobachten. Sicher liege ich aber nicht völlig falsch, wenn ich konstatiere, dass die Entwicklung der Partei – bei allen regionalen Nuancierungen doch bundesweit – weiter auf den Gleisen verlief, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verlegt worden waren.

Dazu gehört auch etwas, das bis in die 90er hinein bei uns noch schwer verpönt war, sich dann aber zunehmend von der Bundes- über die Landes- bis hin auf die Lokal­ebene (Trickle-down-Effekt) ausbreitete: Personalisierung, z.B. auf Wahlplakaten, die auch die grünen Akteure mit Kopf und Namen zeigen. Zu ignorieren, dass es Menschen sind, die in der Politik für andere Menschen arbeiten, und dass es auch für Wähler (mwd) nicht ganz unwichtig ist, diese präsentiert zu bekommen, hatte ich schon in den Anfangsjahren für falsch gehalten.

 

Seit 2013

Im Juli 2012 war ich nach Wedel umgezogen und besuchte bald Veranstaltungen zu lokalen Themen. Nach einer Podiumsdiskussion im Freihof über die Verlagerung der B 431 (Nordumfahrung) mit Vertretern der fünf Ratsfraktionen plauderte ich mit Hellmut von den Grünen noch etwas über dessen Äußerungen. Offenbar hatten wir unterschiedliche Meinungen; jedenfalls verabschiedete er sich an diesem Oktober­abend mit „Wenn du bessere Ideen hast, komm doch zu uns!” Das tat ich zwar nicht sofort, aber ich merkte, dass ich in diesem ganz neuen Umfeld wieder Lust auf Kommunalpolitik bekommen hatte. Zudem hatte ich mit einigen grenzüberschrei­tenden, für Wedel zentralen Themen ja auch schon in Altona zu tun gehabt: Verlauf der B 431, zweigleisiger Ausbau der S1-Strecke, Heizkraftwerk und Klövensteen. An Neujahr 2013 steckte mein Beitrittsschreiben im Briefkasten der Partei, der ich 14 Jahre vorher den Rücken zugekehrt hatte.

Warum wieder die Grünen, die sich längst von der Protest- zur Volkspartei gewandelt haben und dadurch immer weniger unterscheidbar sind? Hatten sich dort die Veränderungen weg von meinen eigenen Positionen doch eher verstärkt und verstetigt, wie es sich im Aufstieg Winfried Kretschmanns zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten personifizieren lässt. Radikal ist die Partei inzwischen nur noch in einer Richtung, und das ist die mit Ausschließlichkeitsanspruch geadelte Betonung des Primats von Kindern und insbesondere ihren Müttern, hinter dem alles andere als zweitrangig und ggf. vernachlässigbar gilt. Natürlich ist Bildung einer unserer wichtigsten Rohstoffe. Natürlich müssen Erziehende die Möglichkeit bekommen, Beruf und Familie verbinden zu können – das dann übrigens bitte ungeachtet des Geschlechts. Und natürlich ist auch die schulische, betriebliche, gesellschaftliche Integration der Unterschiedlichen ein kluges Ziel. Aber müssen die Grünen all das in dieser Intensität und mit nahezu klinischer Zwanghaftigkeit betreiben, die zu Lasten einer ganzheitlichen Betrachtungsweise geht und die ignoriert, dass es dafür diverse in- wie extrinsische Einschränkungen und Grenzen gibt?

Nun, mein Antrieb, kommunalpolitisch noch mal richtig aktiv zu werden, ließ mir wenige Alternativen. Per Ausschlussverfahren kamen CDU, FDP oder SPD für mich überhaupt nicht in Frage, und die Linken nach meinen Erfahrungen mit ihnen in Altona auch nicht. Es wäre aber weder schmeichelhaft noch zutreffend, wenn ich behauptete, nur Push-Faktoren hätten zu meiner Entscheidung geführt. Eigene Attraktivität weisen die Grünen natürlich auch auf, so z.B. der „Markenkern” Umweltthemen, insbesondere angesichts des real stattfindenden Klimawandels, eine Verkehrspolitik, die immer noch Vorreiterfunktion hat, und der „Politikstil Habeck” als Mischung aus Visionen und Realismus. Die Partei wird im Vergleich mit anderen als jünger – wenngleich ein Blick auf unsere Wedeler Fraktion zum Kalenderwechsel 2021/2022 das mit einem Altersdurchschnitt von 61,5 Jahren nicht so richtig widerspiegelt – und weiblicher wahrgenommen, und sie lässt sich gelegentlich auch immer noch an ihre früheren Grundprinzipien erinnern.
Wobei ich selbst im Vergleich zu meinen Anfängen ja auch längst zahm geschliffen (oder „altersweise”?) bin, alleine schon durch den großen Rucksack voller Erfahrung, was in der Politik geht und wieviel Zeit gute Ergebnisse oftmals brauchen. Und einen Antrag wie den von Mitte der 1980er, an der vielbefahrenen Holstenstraße eine Druckknopfampel mit Dauergrün für Fußgänger zu installieren, vor der Autofahrer anhalten und für sich grünes Licht anfordern müssen, würde ich heute auch nur noch spaßeshalber stellen.

2018 im Wedeler Theater

Zwei Wochen nach meinem Aufnahmeantrag ging es beim Ortsvorstand weniger um meine inhaltlichen Ideen als darum, ob ich nicht bei der Ratswahl im Mai kandidieren wolle. Ich wollte. Und ich durfte: Mitte Februar wählten mich die Mitglieder gleich im ersten Wahlgang gegen drei Konkurrenten auf Platz 4 der Grünen Ratsliste.
Erst im Nachhinein bekam ich mit, dass der amtierende Vorstand bekannte wie frische Gesichter suchte, um zu verhindern, dass eine andere Gruppe von Mitgliedern – überwiegend Befürworter einer schwarz-grünen Rats-Zusammenarbeit, die allerdings rund zweieinhalb Jahre nach der 2008er Wahl geplatzt war – ihre eigenen Leute durchsetzt.

Die Frage, wieviel „klare Kante” wir im politischen Alltag zeigen sollten, führte schon gut ein Jahr nach der Wahl dazu, dass die Vorsitzende unserer fünfköpfigen Fraktion nicht länger für unterschiedliche personelle Temperamente und inhaltliche Radikalitätsgrade einstehen wollte. Das war mir tatsächlich neu. Dabei verliefen die Trennlinien in Wedel keineswegs so simpel zwischen drei wieder- und zwei neugewählten Räten, sondern sie wechselten überwiegend themenabhängig: Newbie-♀ und Newbie-♂ lagen nach meinem Eindruck sogar häufiger auseinander als auf gleicher Linie.

Das zeigt ein grundsätzliches Problem politischer Arbeit, nämlich die Frage «Was ist eine Fraktion?». Die kompromisslose 1:1-Fortsetzung des eigenen Wahlprogramms (was aus meiner Sicht eher die arbeitsteilige Aufgabe der Partei ist)? Womöglich fallweise die Übernahme der Rolle als Ein-Themen-Bürgerinitiative mit all ihrer einseitigen Ausschließlichkeit? Oder gar die (Über-) Betonung des individuellen Rechts auf Bauchentscheidungen, selbst gegen den Rat von fachlich beschlageneren Kollegen? Andererseits gilt gerade in einem kleinen Ortsverband mit einer ziemlich überschaubaren Mitgliederzahl: Man hat halt nur die Leute, die man hat.
Fraktionen jeglicher politischen Couleur – jedenfalls wenn sie nicht über die absolute Mehrheit verfügen – haben einen komplizierteren Auftrag, als bloß unbeugsam die eigene Parteiprogrammatik herunterzubeten: Fraktionen sollen diese Inhalte umsetzen. Dazu benötigen sie die Zustimmung anderer, und um die zu erhalten, bedarf es der Bereitschaft, auch mal in einen sauren Apfel zu beißen. Das ist in der Politik übrigens nicht anders als in allen Lebensbereichen: «Do ut des» («Ich gebe, damit du gibst») ist eine grundlegende Strategie sozialen Handelns. Mir ist es lieber, dem angestrebten Ziel in drei kleinen Schritten nahe zu kommen als mit einem einzigen großen Schritt nullkommanichts zu erreichen. Wofür man sich gelegentlich im eigenen Verein den Vorwurf einhandelt, man sei ja eigentlich gar kein „richtiger” Grüner; aber kommt man über den Hund, kommt man auch über den Schwanz.

Auf Bundesebene hatten wir 2021 zum ersten Mal die realistische Chance, die Politik des ganzen Landes „von vorne” zu gestalten: Anfang des Jahres lagen die Grünen gleichauf mit der CDSU, kurzzeitig sogar leicht vor ihr, zudem rund 10% vor der SPD. Schon Wochen vor dieser richtungsgebenden Wahl konnte davon keine Rede mehr sein; wir waren auf Platz Drei abgesackt. Lag dieser Absturz an einem schwer verdaubaren Wahl- und Regierungsprogramm von an die 300 Seiten? An dessen unplakativer Vermittlung gegenüber den potentiellen Wählern? Daran, dass wir uns zur Coronakrise kaum von der Großen Koalition unterschieden und zum zweiten zentralen, aktuellen Politikfeld (Überschwemmungskatastrophe) nicht nachdrücklich und nicht konkret genug unsere Handlungsalternativen formuliert haben? An der dann doch falschen – und übrigens ganz „ungrün” im Inner Circle zustande­gekom­menen – Entscheidung über die Kanzlerkandidaten-Personalie? An Schmutz­kampag­nen gegen unsere Spitzenfrau, für die leider auch ein unfassbarer Mangel an Profess­io­nalität in unserer Parteiführung und -geschäftsstelle mitverantwortlich war? (siehe meinen hier verlinkten Blogbeitrag)

Lauter Fragezeichen, noch keine Antworten. Tatsächlich bekamen wir Ende September popelige 14,8%. Und auch wenn viele Grüne schon am Wahlabend damit begannen, sich diese Riesenschlappe schönzutrinken („enormer Zuwachs gegenüber 2017”), kam es noch schlimmer: Bei den Sondierungsgesprächen zur Bildung einer Koalition mit SPD und FDP verzichteten wir mal eben darauf, über ein Tempolimit von 130 km/h auch nur zu verhandeln! Das ist nichts anderes als Selbstkastration in vorauseilendem Gehorsam, um der Machtbeteiligung willen – und wenn das sogar jemand sagt, der ganz ungrün selbst auch gerne mal mit 170 über die Autobahn brettert …

2022/23 erlebe ich meine Grünen fast wie in einer Karikatur: (Nicht nur) auf Bundesebene kippen Regierung, Fraktion und Partei im Affenzahn nahezu alles, was uns mal hoch und heilig war. Ukrainekrieg und Gaslieferengpässe sind wahrlich schwerwiegende, nicht zu ignorierende Anlässe für ein Umdenken, aber hier grenzt es an Magie und Simsalabim: Lieferung schwerster Waffen, hart an der Grenze zur deutschen Kriegsbeteiligung? Mok wi! Verlängerung der Laufzeit mehrerer Atomreaktoren? No prob! Durchsetzung des weiteren Abbaggerns klimavergiftender Braunkohle? Aber gerne doch! Da geriert Anton Hofreiter sich als Oberpanzer­erklärbär, Robert Habeck guckt wie Katze wenn donnert, aber verkündet die neuen Botschaften ganz ungerührt, und unsere Bundescosprecherin Ricarda Lang umarmt die liebsten Koalitionspartner verbal bis zur Unappetitlichkeit.
Dabei will ich manches nicht wirklich kritisieren, denn auch ich habe mich ja von meiner Anfangszeit stark wegentwickelt. Schon damals bereitete mir die Frage einen ernsthaften Gewissenskonflikt, was gewesen wäre, wenn USA, Sowjetunion und Großbritannien Deutschland nicht militärisch von den Nazis befreit hätten. Einst Kriegsdienstverweigerer, bin ich heute dabei, dass Deutschland dem putinschen Imperialismus mehr als bloß warme Worte, ergebnislose Verhandlungen und 5000 Helme entgegensetzen muss. Ich habe auch nicht die perfekte Antwort, wo die rote Linie unserer Unterstützung konkret liegen sollte. Wohl aber sind die Heftigkeiten der grünen Wandlungen – wenngleich dies 2023 keine Premiere ist (siehe oben, Bielefelder Parteitag 1999) – zu vermerken, denn punktuell wird dabei vom einen Extrem ins andere verfallen, und wenn ein Pendel dermaßen stark ausschlägt, empfinde ich das weder im Privaten noch in der Politik als ein gutes Zeichen von Nachdenklichkeit, Flexibilität und rationaler Reaktion auf externe Veränderungen.

[…]

 

 

Exkurs: Atmosphärisches in meinen Fraktionen

Wie gut die politischen Ergebnisse einer Fraktion ausfallen, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie gut das persönliche Miteinander ihrer Mitglieder ist. Ohne Übertreibung: In Altonas GAL-Fraktionen gab es, ungeachtet ihrer wechselnden personellen Zusammensetzung, zwischen den Mitt-Achtzigern und Ende der 1990er praktisch keine Sitzung, nach der nicht ein Großteil von uns noch Lust hatte, dem inhaltlichen das persönliche Gespräch folgen zu lassen. Der Stammtisch in einem benachbarten Lokal war fest gebucht und gut besucht – alle 14 Tage. Das wirkte sich dahingehend aus, dass selbst unsere alles andere als unproblematische Trennung im Mai 1999 ausgesprochen harmonisch verlief; unmittelbar nach dem gemeinsamen organisatorischen Vollzug der Regenbogen-Abspaltung saßen wir alle zusammen in einer Ottenser Gaststätte und betrieben den gewohnten Plauder- und Trink-Business, statt uns plötzlich gegenseitig als ungeliebte Konkurrenten zu betrachten. Und natürlich blieben wir auch anschließend häufig im Kontakt, vermieden sogar in den öffentlichen Gremiensitzungen möglichst die verbale Beschädigung der jeweils anderen Hälfte.

Das war in den beiden Wedeler Grünen-Fraktionen seit 2013 ganz anders. Leider. Entsprechend litt unter der mangelnden Empathie auch die Arbeitsatmosphäre. Gleich nach unserer allerersten Fraktionssitzung schlug ich einen gemeinsamen Klönschnack in einer Schankwirtschaft vor. Den gab es immerhin, allerdings nur in einer erschreckend kleinen Runde. Von unseren anfangs fünf, später sieben Stadträtinnen begleitete mich regelmäßig nur Rainer, ab und an – mit rückläufiger Tendenz – auch Willi. Dazu kamen von den bürgerlichen Mitgliedern verlässlich noch Karin und Felix mit, in der früheren Wahlperiode zudem Ratsherr Thomas G. und Hellmut. Die Corona-Pandemie mitsamt der Tatsache, dass Sitzungen phasenweise nur als Videokonferenz und somit nicht mit echten Menschen in einem Raum stattfanden, taugt nur höchst eingeschränkt als Begründung für das Fernbleiben der anderen, denn das war auch schon vor 2020 durchgehend so. Selbst wenn man wegen Beruf oder Familie tatsächlich weniger Zeit hat – lässt sich nicht wenigstens jedes zweite Mal wenigstens ein halbes Stündchen freischaufeln? Kann mir niemand ernsthaft erzählen. Dabei bringt einem nach meiner Erfahrung solch ein ungezwungenes Miteinander Menschen näher, mit denen man nicht immer auf derselben Wellenlänge funkt. Und das Schlimme daran: Wenn jemand durch dauerhaftes Nichtmitgehen überdeutlich macht, dass er oder sie keine Lust zum zwanglosen Gespräch mit den anderen Fraktionären hat, drückt das auf Dauer auch die Stimmung bei der inhaltlichen Arbeit. Traurig, aber wahr.

Nun, zur Kommunalwahl 2023 hat Petra sich von der Wedeler Mitgliedschaft eine Kandidatenliste backen lassen, deren Mitgliederinnen sich auf’s Beste verstehen werden. Jedenfalls solange niemand der Spitzenkraft standhaft widerspricht; denn das führt zu stutenbissiger Sanktionierung, wie es drei kompetente Frauen (Tanja, Angela und Martina) in den zurückliegenden Jahren erleben durften. Das Kompetenzprofil der zukünftigen Fraktion allerdings scheint sich auf die Interessen von Kindern und Radfahrern zu reduzieren („Cycle Moms”), wofür der hoch defizitäre städtische Haushalt sicherlich gerne noch stärker erröten darf.

 

 

Grüne Geschichtslosigkeit?

Im Januar 2020 feierte meine Partei in einer großen Veranstaltung in Berlin mit dem Bundespräsidenten und vielen anderen Promis das Doppeljubiläum «40 Jahre Grüne, 30 Jahre Bündnis 90». Ich habe danach unseren Bundesgeschäftsführer angeschrieben und gefragt, ob er dazu eigentlich auch ein paar vielleicht weniger prominente Gründungs- und Altmitglieder von 1980 eingeladen habe. Michael Kellner, Grüner seit 1997, ließ [sic!] mir kurz von einer Mitarbeiterin antworten, dass unter den „17.000 Mitgliedern einige Gründungsmitglieder dabei sind. … [Aber] es ist uns schlicht nicht möglich, zu wissen, wann [jedes einzelne Mitglied] eingetreten ist.” Und dann noch: „Es haben bloß 1.599 Leute in den Raum gepasst.” Mange tak for ingenting (dän.: Vielen Dank für nichts).

War das bloß Ausdruck einer in technischer Hinsicht vorneuzeitlichen Mitgliederbuchhaltung? Von Gedankenlosigkeit? Eine Folge des Lebens in der hermetischen Blase Berliner Regierungsviertel? Oder ob manchen der heutigen Führungs-Grünen die Frühgeschichte der Partei und deren Protagonisten womöglich sogar ein bisschen peinlich sind? Aber bevor ich das bei Michael nachfrage und mir eine kurzzeitige Vertretungskraft wieder nur wenig beantwortet, …

Anderes Beispiel: 2023 beging ich mein Doppeljubiläum aus insgesamt 30 Jahren Partei- und 10 Jahren Kreisverbandsmitgliedschaft. Allerdings verweigerte mir Pinnebergs Vorstand – angeführt von einer Frau, unter deren Führerschaft ja bekanntlich alles menschlicher und harmonischer zugeht – unter fadenscheinigem Vorwand eine entsprechende Laudatio. Da sollte wohl mangelndes Wohlverhalten gerüffelt werden. Ganz offenkundig steht PI nicht nur für unsere Kreisstadt, sondern auch noch für personelle Piefigkeit. Dafür konnte ich an diesem Sonnabend länger ausschlafen.

 

 

Daniel Cohn-Bendit und ich: Trennendes und (überraschend viel) Verbindendes

DCB: Wir sind alle unerwünscht

Wer die private wie die politische Biographie Cohn-Bendits kennt, wird einen solchen Vergleich möglicherweise für anmaßend halten, und das durchaus mit guten Argumenten. Nur Daniel stammt aus einer jüdischen Familie, ist ein permanent Wandernder zwischen zwei Nationalitäten und zwei Kulturen, zwanzig Jahre lang Europaparlamentarier, ehemals Studentenführer in Paris, später zuständig für Multikulti-Angelegenheiten in der Stadtverwaltung von Frankfurt/Main, grüner Realo. Eine internationale Größe mithin, fünfeinhalb Jahre älter als ich. Schon auffällig sind aber ein paar vordergründige Fakten und tiefprivate Vorlieben, die wir miteinander teilen.

Nimm ihn ab!

Da ist als Erstes natürlich Frankreich & Deutschland und Deutschland & Frankreich – mithin nichts Geringeres als Leben und Liebe. Auch Dany le Rouge kam von linksaußen, und durch seinen Aufsatz «Der Anarchismus, Heilmittel gegen die Alterskrankheit des Kommunismus», eine Abrechnung mit der Rolle des Parti Communiste Français unter Waldeck Rochet während des Mai 1968, machte ich erste Bekanntschaft mit ihm. „Der rote Dany” war übrigens noch eine der freundlichsten Bezeichnungen, die seine politischen Gegner in Frankreich auf ihn münzten – die übelste war die Verballhornung seines Familiennamens zu Con-Bandit, in der Antisemitismus nicht bloß mitschwang.

Auch er wurde ein Grüner, wenngleich offiziell erst 1984. Auch er entwickelte und entfernte sich darin von seinen radikalen Einstellungen der jüngeren Jahre – teilweise hin zu inhaltlichen Positionen, mit denen ich bis heute fremdle. Das waren schon sehr unterschiedliche Flügel, mit denen wir jeweils geflattert haben. Aber das politische Gefieder ist dennoch dasselbe. Und immerhin war er früher ebenfalls für die Legalisierung des Haschischkonsums eingetreten. Außerdem mochte und spielte auch Daniel Fußball, eine keineswegs mit der Muttermilch unserer Partei verabreichte Vorliebe.

Er musste dann aber erst einen weiteren Text verfassen, diesmal ein ganzes Buch, um des Zwillingspudels wahren Kern offenzulegen: Unter den Stollen der Strand. Fußball und Politik – mein Leben, 2018 auf Französisch, 2020 auf Deutsch veröffentlicht, gibt diesen Gleichklang preis. Wir, der eine wie der andere, …
♥ waren verzaubert von Stade de Reims in seiner größten Zeit, Daniel aus der Nähe, ich mehr aus der Entfernung,
♥ fieberten mit der französischen Nationalelf bei der Weltmeisterschaft 1958 in Schweden mit,
♥ lieben heutzutage den Frauenfußball, wo sich unsere Zuneigung auf dieselbe Person, die Ballstreichlerin Shirley Cruz Traña, fixiert,
♥ und machen uns Gedanken um die bestmögliche Aufstellung der Bleus.
Bei letzterem Punkt klaffen unsere Ansichten allerdings hinsichtlich eines Spielers unüberbrückbar auseinander: Daniel hielt Mittelstürmer Olivier Giroud schon 2018 für unbedingt verzichtbar. Erst recht bei der WM 2022 erwies sich als Segen, dass nicht DCB, sondern Didier Deschamps Nationaltrainer ist!

Hingegen weisen Daniel und ich selbst als Klubsupporter noch eine gewisse Ähnlich­keit auf. Denn wie um Himmels Willen man ausgerechnet Anhänger der SG Zwie­tracht Krankfurz sein kann, erschließt sich schon am gegenüberliegenden Mainufer kaum noch jemandem, geschweige denn mir Nordlicht. Aber ich kenne tatsächlich nieman­den, der eine solche, Jahrzehnte anhaltende Herzensangelegenheit, die zur Beses­sen­heit geworden ist, rational und allüberzeugend zu begründen vermag. Nick Hornby und mich eingeschlossen.

Sollten wir uns je begegnen: Wir hätten eine Menge Gesprächsthemen, freilich frühestens nach dem dritten Bier über Partei & Politik.

 

Meine grünuntypischen Eigenschaften

Ob Daniel auch so gerne Auto fährt wie ich, weiß ich nicht. Es ist – wie die Zuneigung zu Fußball statt Tai-Chi, zu Schweinefleisch statt Tofu oder zu Bier und Skat statt Rhabarbersaft und Psychospielen – jedenfalls ein weiterer schwarzer Fleck auf meiner grünen Weste. Bei musikalischem Ökokitsch („Karl der Käfer wurde nicht gefragt, man hat ihn einfach fortgejagt”, „Sind so kleine Finger dran, soll man nicht drauf treten”) schüttelt es mich unwillkürlich. Ebensowenig bin ich ein Freund des zwanghaft-zwingenden Gendersprechs, und im Wahlkampf hätschle ich keine Babys. Und auch wenn ich trotz sehr zügigen Fahrens über sehr weite Strecken (gerne schon mal über 1000 km in einem Rutsch) seit Jahrzehnten unfallfrei bin, geht es eigentlich gar nicht, dass ich auch 2024 immer noch einen Verbrenner lenke. Ebenso wenig wird man mir die Erklärung durchgehen lassen, dass ich in einer Zeit sozialisiert wurde, in der der Besitz eines Pkw noch positiv besetzt war.

My Lady Dy

Meine ersten waren Mutters Skoda 1000 MB („Der Panzer”) und Eva H′s Käfer, als Student lauter Renaults (R8, R4, Dauphine, allesamt leider mächtig kurzlebig), im Referendariat ein VW und seit Auf­nahme der Berufstätigkeit Nissans, die anfangs Datsun hießen. Zu meiner Entlastung: SUVs oder andere 15-Liter-Sprit­schluc­ker waren nie darunter, sieht man davon ab, dass ich 2007 bei einem Gewinn­spiel mal die Chance bekommen hatte, ein verlän­gertes Wochen­­­ende lang einen Benz-Roadster (CLK 240) über Nordwestdeutsch­lands Autobah­­nen zu schrubben. Auf dem „Ostfrie­senspieß” von Bottrop nach Emden in gefühlt 45 Minuten wurde aber sogar mir dabei schnell zu schnell, weil alle anderen so langsam fuhren. Ich kenne allerdings auch die gegenteilige Grenz­erfahrung: 2024 habe ich eine 33-PS-Ente (Citroën Dyane 6, Baujahr 1979) aus Dithmarschen nach Wedel überführt und dabei die Tachonadel auf der A 23 nur einmal kurz an der 100er-Markierung schnuppern lassen. Spät, aber nicht zu spät: Gibt es vielleicht ein passenderes Auto für einen Donaldisten? Bloß schade, dass das Nummernschild mit der 313 nicht frei war.

Anfang desselben Jahres bin ich noch mal in die Fahrschule gegangen. Nicht, dass Flensburg mich dazu verdonnert hätte oder ich mich im Straßenverkehr eingeschränkt und unsicher fühlte; aber in den 55 Jahren vorher habe ich nie anderes als Wagen mit Schaltge­trie­be gelenkt – Knüppel-, Lenkrad- oder Stechschaltung sowie Kupp­­lungs­pedal, selbst Zwischengas kenne ich aus dem FF. Sollte ich irgendwann doch noch auf ein E-Auto um­­stei­­gen, will ich darauf vorbereitet sein, mit dessen Automatik zurecht­zukommen.
In der Fahrstunde hörten meine rechte Hand nach acht und mein linker Fuß nach elf Minuten auf, jedesmal zu zucken, wenn ich mich einer roten Ampel näherte. Offenbar alles reine Gewöhnungssache.

Dass ich mich seit vier Jahrzehnten beileibe nicht jedem grünen Klischee und Mainstream angepasst habe, lässt das Fazit zu, dass ich einen Teil der Anarcho-Züge meiner Jungerwachsenenzeit bis ins mittlerweile ziemlich hohe Alter nie so ganz abgelegt habe. Komisch wird es allerdings, wenn mir – wie jüngst geschehen – zwei durchaus selbst nicht mehr taufrische Ganzneumitglieder erzählen wollen, wie Grüne Politik zu funktionieren habe. „Märzgefallene erklären altem Kämpfer die Partei” oder, historisch etwas weniger bösartig, „Einem alten Fahrensmann in ’n Bart spucken und behaupten, es hätte gereift” zeugt schon von ziemlicher Selbst­über­schätzung.

 

 


 

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